Ist Pazifismus noch vertretbar?

 

Den untenstehenden Text, Tractatus logico-militaricus, eine Art pazifistisches Manifest, habe ich im Oktober 1989 in der Autorenzeitschrift «Einspruch» publiziert. Der Text ist ein Bekenntnis zum pessimistischen (nicht utopischen) Pazifismus. Es war die Zeit der GSoA (Gruppe für eine Schweiz ohne Armee), die 1989 mit der Abstimmung über die Initiative «Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik» den schweizerischen Wehrwillen ins Wanken brachte. 35,6 % der wahlberechtigten Schweizerinnen und Schweizer befürworteten die Abschaffung der Schweizer Armee.

Unter den Progressiven, zu denen ich mich zählte, gehörte es zur Political Correctness, sich für den Pazifismus zu engagieren. Wir schimpften die Befürworter der Armee Kriegstreiber, machten uns lustig über die Schweizer Armee und zitiertem Graffiti-Parolen: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin! Sogar der alte Max Frisch überwand seine Schreibmüdigkeit und hinterfragte die Schweizer Armee in dem schmalen Buch Schweiz ohne Armee? Ein Palaver.

Political Correctness hin oder her – es fehlte uns nicht an persönlicher Überzeugung, ganz im Gegenteil. Aber zu viel Überzeugung behindert manchmal den Blick und das Vorstellungsvermögen. Konnten oder wollten wir – und jetzt wechsle ich zum Ich, ohne dass sich dabei viel ändern wird – konnte ich mir damals wirklich nicht vorstellen, wie das ist, wenn Panzer einer fremden Armee durch die Strassen rollen, wenn unser Haus von einer Bombe getroffen wird, unsere Stadt niedergewalzt und unser Land besetzt wird – überfallen von einer Übermacht, die nicht einmal ernsthaft den Versuch macht, ihre Gewalt als Gegengewalt zu legitimeren? Hatte ich mir damals überlegt, was ich tun würde, wenn ich mich in einer Situation wie die der Ukrainer heute befände? Weder geografisch noch historisch hätte ich weit suchen müssen, denn an Anschauungsmaterial hätte es im Europa des 20. Jahrhunderts nicht gefehlt. War ich, waren wir derart naiv? Hätten wir uns vorstellen können, dass wir einmal Waffentransporte an ein europäisches Land begrüssen werden? Konnten wir pazifistische Parolen nur skandieren, weil wir uns hinter dem Zaun in Sicherheit wähnten? Kann man nur Pazifist sein, solange man nicht angegriffen wird?

Natürlich hätte ich damals gesagt, dass die Situation in der Ukraine nicht auf die Schweiz anwendbar sei. Hier sei weit und breit kein Angreifer in Sicht, es gehe hier nicht um Verteidigung, sondern um Vorbereitung auf eine unwahrscheinliche Hypothese, und bekanntlich sei es ja die Vorbereitung auf den Krieg, die den Krieg nicht nur ermögliche, sondern auch provoziere. Ausserdem – und vor allem – sei die Vorbereitung auf den Krieg ein riesiges Geschäft usw.

Und wie steht es heute? Wer bekennt sich noch grossmundig zum Pazifismus? Ist Pazifismus nach dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine noch vertretbar? Pazifismus, eine bequeme Haltung für Sofa-Ideologen? Haben wir uns bereits endgültig – und diskussionslos – vom Pazifismus verabschiedet? Ich tue mich schwer, Prinzipien von einem Tag auf den anderen über Bord zu werfen. Dahinter steckt wahrscheinlich das geistige Trägheitsprinzip – und bestimmt auch eine gute Portion intellektueller Dünkel. Was ich nicht mehr verbergen kann: Mein Pazifismus ist kleinmundig geworden und treibt mir manchmal die Schamröte ins Gesicht. Aber wenn ich sehe, was auf uns zukommt, möchte ich mein Gesicht in den Händen vergraben: Es wird wieder aufgerüstet und die neue Staatsideologie ist wieder die alte – nur ohne kritischen Widerstand: Zurück zum Kalten Krieg! 

Ich glaube immer noch, dass die Sätze des Tractatus logico-militaricus im Prinzip gültig sind: Gewalt und Gegengewalt werden immer zum Selbstlauf und treiben immer die Gewaltspirale an; ein ewiger Friede ist ohne Gewaltverzicht nicht möglich – aber ein (einseitiger) Gewaltverzicht führt auf der politischen Ebene nur selten zum Frieden. Mit dem Pazifismus ist es wie bei allen Ideologien: Sie haben nur im Prinzip Recht, das heisst: solange sie nicht von einem Ereignis widerlegt werden, mit dem wir nicht gerechnet haben (oder nicht rechnen wollten). Und solche gibt es immer in einem Machtsystem, das mit geringsten Verschiebungen der Machtverhältnisse, der Interessen, Launen und Ressentiments aus dem Gleichgewicht geraten kann.

Was ich gelernt habe: 1. Auch im Kern Europas ist nicht garantiert, dass man in alle Ewigkeit auf einem friedlichen Ruhekissen schlafen kann, ohne an die Möglichkeit eines Kriegs zu denken. 2. Wie schnell sich die Verhältnisse ändern und wie leicht man mit politischen Einschätzungen und Prognosen irrt, das haben wir alle deutlich vor Augen geführt bekommen. 3. Selbstverteidigung ist nicht völlig sinnlos. Selbst wenn sie aussichtslos ist, verteidigt auch sie – und nicht nur der Pazifismus – den wichtigsten Wert nach der menschlichen Existenz: die Menschenwürde.

Hand aufs Herz: Ich lege für keine Ideologie mehr die Hand ins Feuer.

 

                                                                                                    März 2022

 

 

Karl-Gustav Ruch

Tractatus logico-militaricus

 

1.1. Das Militär ist eine Institution des Friedens.

1.2. Das Militär ist eine Institution des Kriegs.

2.1. Es gibt das Militär, weil es Krieg gibt.

2.2. Es gibt den Krieg, weil es Militär gibt.

3.1. Solange es Kriege gibt, brauchen auch wir eine Armee.

3.2. Solange es Armeen gibt, wird es Kriege geben.

4.1. Weil es immer Kriege geben wird, werden wir immer eine Armee brauchen.

4.2. Weil es immer Armeen gibt, wird es immer Kriege geben.

5.1. Wer Frieden will, der rüste für den Krieg. Der mögliche Krieg ist ein Mittel zum Frieden.

5.2. Wer Krieg will, der rüstet für den Krieg. Wer für den möglichen Krieg rüstet, ermöglicht den Krieg.

6.1. Solange es Kriege gibt, gibt es Militär, und solange es Militär gibt, gibt es Kriege. Das logische Verhältnis von Militär und Krieg bildet einen Zirkel.

6.2. Das militärische Denken und Handeln verfängt sich in einem zweiten logischen Zirkel: Da es immer eine Armee geben wird, wird es immer auch eine andere Armee geben. Von der Existenz der andern holt sich jede Armee ihre Existenzberechtigung.

(Dasselbe lässt sich sagen von der Gewalt überhaupt: Da es immer Gewalt gibt, gibt es immer Gegengewalt. Die Gewalt legitimiert sich immer als Gegengewalt – die klare Unterscheidung zwischen Gewalt und Gegengewalt löst sich auf.)

7. Setzt man diese Logik in die Zeit, so entsteht die Figur der Spirale: Da immer eine der Armeen aufrüstet, rüsten die andern immer nach; und wenn die andern nachgerüstet haben, rüstet die eine (oder andere) wieder auf - und so weiter und so fort. Nur wer mitrüstet, verfügt über eine wirksame Armee.

7.1. Das Weiterdrehen der Spirale nennt man Aufrüstung. (Sie ist ein Analogon zum technischen Fortschritt.)

7.1.1. Die Aufrüstung ist (qualitativ) irreversibel. Die Atombombe lässt sich zwar verbieten, ihre Möglichkeit aber lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen.

7.2. Der Versuch, die Geschwindigkeit (bzw. die Beschleunigung) der Rüstungsspirale zu bremsen, heisst Abrüstung.

7.2.1. Abrüstung rüstet nicht ab, sondern verlangsamt (im besten Fall) die Geschwindigkeit (bzw. die Beschleunigung) der Aufrüstung.

8. Das Verhältnis von Militär und Krieg bzw. Frieden bildet eine Mittel-Zweck-Relation.

8.1. Ein dissuasives Militär ist ein Mittel zum Zweck „Kriegsverhinderung“. (vgl. 5.1.)

8.2. Dieses Mittel ermöglicht den Krieg: (vgl. 5.2.)

8.3. Aufrüstung (bzw. Überrüstung) ist die Überwucherung des Zwecks durch das Mittel.

8.4. Die Institution Militär wird durch Überrüstung zum Selbstzweck: die Institution pflegt sich selber, sie braucht den Krieg (als Mittel) zu ihrer Existenzberechtigung.

8.5. Das Militär als ökonomischer Faktor (Rüstungsindustrie) dient einem Fremdzweck.

8.6. Die Sache Militär wird zum Sachzwang.

9. Der politische Realist (er hält sich an die Tautologie „Die Welt ist und bleibt so, wie sie ist“) anerkennt den (selbst)mörderischen Selbstlauf der Sachzwänge, sieht ihn als unabänderlich – und hält ihn damit in Schwung.

9.1. Wer den kriegerischen Selbstlauf in Schwung hält, wird zum Mittäter.

10. Der Friedenswille, der erst dann auf militärische Gewalt (oder Gegengewalt) verzichtet, wenn die andern auch verzichten, bleibt gefangen im Teufelskreis der Gewalt. Er ist gezwungen, weiter zu rüsten.

10.1. Das Höchste, was er erreichen kann, ist ein (befristeter) Nichtkrieg.

11. Der Versuch, aus dieser teuflischen Dialektik auszubrechen, heisst Pazifismus.

11.1.1. Der Pazifist weigert sich, die Idee des Friedens durch den Einsatz kriegerischer Mittel zu verraten. (Der kriegerische Weg führt nie zum friedlichen Ziel.)

11.1.2. Der Pazifist ist insofern immer Idealist, als er sich weigert, die Zukunft als Fortsetzung der Gegenwart im Voraus anzuerkennen.

11.2.1. Aus dem Teufelskreis der Gewalt kann die Welt als ganze nur dann aussteigen, wenn alle aussteigen.

11.2.2. Da nur wenige glauben, dass die andern auch aussteigen werden, wollen nur wenige aussteigen. Pazifismus ist immer Einzelgang.

12. Der utopische Pazifismus glaubt an den Weltfrieden.

12.1. Er glaubt, um zu handeln. Er braucht eine Utopie als Ziel seines Tuns.

13. Der pessimistische Pazifist glaubt nicht an die Utopie des Weltfriedens. Er versagt sich die Illusion (d. h. Hoffnung als Zweckoptimismus).

13.1. Eine Welt ohne Krieg wird es nie geben. Der pessimistische Pazifist erkennt unsere kriegerische Zukunft, aber er anerkennt sie nicht.

13.2. Er braucht nicht die Hoffnung, dass alle einmal die Waffen niederlegen, um selber seine Waffen zu strecken. Er braucht nicht (notwendigerweise) den Erfolg für sein Tun.

13.3 Er ist Pazifist, weil er nicht im brutalen Selbstlauf der Sachzwänge sich mitdrehen (und damit mittreten) will.

13.4. Er glaubt nicht, damit die Welt aus dem Hexenring der Gewalt zu führen.

13.5. Er handelt aus Moralität: menschgerechtes, menschenwürdiges und menschenachtendes Handeln muss möglich sein auch ohne Hoffnung – das ist sein Glaube.

14. Wovon man nicht logisch sprechen kann, darüber muss man nicht schweigen: die Welt besteht nicht aus logischen Kreisen; der Krieg selbst ist keine dialektische Figur. Er ist Hass, Leid und Gewalt, und er bringt Elend, Verstümmelung, Trauer – und Profit.

 

                                                                           

Publiziert im «Einspruch» Oktober 1989, leicht revidiert.

 

 

 


Nationalisten

 

Sie fühlen sich anders.

Anders als die allen andern.

Ein Anderer hat ihnen mal gesagt: Wir fühlen uns auch anders, anders als die andern.

Darauf haben sie gesagt: Ja, aber wir sind eben anders anders als ihr andern, unser Anderssein ist anders als das Anderssein der andern.

Aber bitte, hat ihnen darauf der Andere gesagt, jedes Anderssein ist anders als das andere.

 

Schon, meinten sie, aber unser Anderssein ist eben anders anders als das Anderssein der andern.


Karl-Gustav Ruch

Wie eine Gesellschaft zerbricht

Ein persönlicher Bericht über den Katalonien-Konflikt

 

Zivilisiert und friedlich

 

Sie halten sich an den Händen, bilden eine 400 km lange Menschenkette durchs Land, wandern zivilisiert und friedlich (so ihr Leitspruch) in gelben T-Shirts und gelben Halstüchern über Landstrassen und Autobahnen, schwenken rotgelb-gestreifte Fahnen und Spruchbänder, marschieren durch die Einfallstrassen in Barcelona und ballen sich zusammen zu gigantischen Grosskundgebungen. 1,8 Millionen sollen sich laut Polizeischätzungen im Jahre 2014 auf den zwei Hauptverkehrsachsen Diagonal und Gran Vía versammelt haben. Sie fordern im Namen des Volkswillens Democràcia i llibertat! (Demokratie und Freiheit!), Visca la Catalunya lliure! (Es lebe das freie Katalonien!), und sie richten Hilferufe an die internationale Gemeinschaft: Stop Fascisme!, Spain is a fascist state!.

Ein Volk erhebt sich gegen das Joch der über 200 Jahre dauernden Unterwerfung, begehrt auf gegen die spanische Besatzungsmacht, kämpft für Freiheit und Unabhängigkeit, für das Überleben seiner Identität, Sprache und Kultur;  ein Land, das kein Land sein darf, empört sich über die ungerechte Festnahme seiner politischen Führer - Llibertat presos politics! (Freiheit für die politischen Gefangenen!)

Was haben die politischen Anführer verbrochen, dass man sie zu langjährigen Haftstrafen verurteilt? Sie haben als gute Demokraten Urnen aufgestellt, um ein Referendum über die Abspaltung ihres Landes von Spanien durchzuführen. Am 1. Oktober 2017 legten 90 % der Katalanen ihre Stimme für die Unabhängigkeit in die Urne. Alles lief zivilisiert und friedlich ab, bis die spanischen Ordnungshüter die Wahllokale mit Gewalt zu sperren versuchten und mit Knüppeln auf das wehrlose Stimmvolk eindroschen. Die Politiker, die darauf die Katalanische Republik ausriefen, versuchten lediglich, den Auftrag des Volkes umzusetzen. Dafür haben sie vom Obersten Gerichtshof in Madrid am 14. Oktober 2019 die Rechnung kassiert: Haftstrafen bis zu 13 Jahren. Ein politisches Urteil, eine Vergeltungsmassnahme der Machthaber in Madrid!

 

So lautet die eine Geschichte, und so erzählt sie die eine Hälfte der katalanischen Bevölkerung – jene, die sich für die Loslösung von Spanien stark macht. Nach einer Erhebung der katalanischen Administration im Oktober 2019 unterstützen rund 42 Prozent die Unabhängigkeit, während 49 Prozent sie ablehnen.

 

Die andere Geschichte

 

Es war in einer typischen Diskussion im Familienkreis, als mir das erste Mal das emotionale Potential des Konflikts aufging. Nachher weiss man nie, wie und warum es begonnen hat, denn eigentlich hat man stillschweigend vereinbart, das Thema zu meiden. Da lässt jemand einen Satz fallen – scheinbar beiläufig, harmlos – die Diskussion beginnt, sie wird lauter, man beginnt zu schreien, zu schimpfen, einer fühlt sich an die Wand gedrängt, steht mit rotem Kopf auf, zeigt wutschnaubend in die Runde und ruft: Ihr werdet sehen, ihr werdet was erleben! Was so viel heisst wie: Euch wird man es heimzahlen, wenn wir an der Macht sind. Er verliess die Runde und wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Seither meiden wir in der Familie das Thema wie der Teufel das Weihwasser.

Und damit beginnt die andere Geschichte. Sie handelt zur selben Zeit am selben Ort. Es ist eine Erzählung, die selten über die Pyrenäen dringt.

Zu Millionen marschieren die Glaubensbrüder stupiden Fahnen und Trugbildern hinterher, laufen wie Sektenanhänger durch die Strassen und leiern ihre Mantras herunter.  Menschen des 21. Jahrhunderts, die im Nationalismus, mit Begriffen wie Identität, Einheit - «ein Volk, eine Sprache, eine Kultur» - immer noch oder wieder - ihr Heil suchen. In einer Zeit, da die grossen Probleme nur noch auf globaler Ebene gelöst werden können, suchen sie die Lösung im Rückzug auf nationale Werte und verengen den Blick auf den regionalen Horizont. Eine selbsternannte Mehrheit fordert im Namen des katalanischen Volkes die Katalanische Republik und drückt alles an die Wand, was sich ihr entgegenstellt, beschimpft Andersdenkende in ihrem orwellschen Newspeak als Faschisten und ächtet Abtrünnige als Verräter. Die anonyme Separatisten-Organisation Tsumami Democràtic macht ihre demokratische Gesinnung mit einem Spruchband klar: Entweder Unabhängigkeit oder Barbarei.

Nach der Urteilsverkündung gegen die Separatisten-Führer am 14. Oktober wurden Hunderte von Aktivisten verhaftet, weil sie die von den Parlamentariern ausgerufene und von Präsident Quim Torra legitimierte Gehorsamsverweigerung und die politische Autonomie beim Wort nahmen und darauf die Hüter der spanischen Souveränität mit Pflastersteinen, Molotowcocktails und Säureflaschen und Stahlkugeln beschossen und Hunderte von Polizisten verletzten; weil sie die Polizei-Helikopter mit Feuerwerks-Raketen angriffen, weil sie Strassenbeläge, Laternen und Ampeln zerstörten, Abfallcontainer, Autos und Motorräder anzündeten und  – aufgemuntert von Parteien und der katalanischen Regierung -  den Verkehr im Zentrum und auf Autobahnen mit Strassensperren lahmlegten, den Flughafen von Barcelona besetzten und Bahnlinien sabotierten.

 

Zynische Logik

 

Und ihre politischen Führer? Sie wurden nicht wegen ihrer Ideen verurteilt, sondern weil sie das Recht zur Meinungsäusserung mit Entscheidungsfreiheit verwechselten, sich zu den Herren des Landes erklärten, Gesetze und Verfassung missachteten, Gehorsamsverweigerung gegenüber dem spanischen Staat gesetzlich verankerten und ein illegales Referendum durchführten, das jeder demokratischen Prüfung Hohn spottet und weil sie schliesslich die einseitige Trennung vom spanischen Staat ausriefen. (Die Abstimmung wurde von den Unabhängigkeits-Gegnern boykottiert: So kommt man leicht auf 90 Prozent Ja-Stimmen)

Dieselbe Regierung unter Präsident Torra, die die Demonstranten zur Besetzung des Flughafens ermunterte, schickte ihnen darauf Polizeitruppen hinterher, um sie mit Schlagstöcken und Gummigeschossen zu vertreiben. Und nun – der absolute Gipfel des katalanischen Staatszynimus – lobt man die Demonstranten für ihren tapferen Einsatz. Die zynische Logik ist nicht zu Ende: Man schiebt die Schuld an diesen Widersprüchen, die einigen der als Kanonenfutter verwendeten Demonstranten ein Auge gekostet hat, auf die spanische Staatsmacht und deren Gesetzgebung.

Der für die Unabhängigkeit kämpfende Bürgerverein ANC, der den Slogan cívico und pacífico (zivilisiert und friedlich) für sich in Anspruch nimmt, rechtfertigte die Gewaltakte in den Strassen von Barcelona: So werde der Konflikt international sichtbar gemacht und in den Medien besprochen. Keine Partei oder Organisation aus dem separatistischen Lager hat dieser zynischen These widersprochen. So weit sind wir schon: Der Zweck heiligt die Mittel. 200 Verletzte muss man halt für die Sache in Kauf nehmen. Die Gewalt der Demonstranten ist lediglich die Antwort auf die Gewalt des Staates. Schuld sind – wie immer - die anderen. Man nimmt die Opferrolle ein und wäscht seine Hände in Unschuld. Weit her kann es nicht sein mit dem Pazifismus der Unabhängigkeitsbewegung, wenn selbst ihre politischen Anführer und Volksvertreter bei der ersten ernsthaften Nagelprobe die Gewaltanwendung rechtfertigen.

 

Lügen und Mythen

 

Zum Glaubensbekenntnis und Argumentarium der katalanischen Unabhängigkeitsbewegungen gehört ein Repertoire aus Lügen, Halbwahrheiten, Heilsversprechen, Mythen und gezielter Desinformation.  Die Glaubenssätze werden von höchster Stelle Tag für Tag verkündet und von den Anhängern wie Mantras nachgesprochen. Hier einige der Mythen, die im täglichen Diskurs obenauf schwimmen:

 

Spanien raubt uns aus. 

Dieses Mantra wurde von den ehemaligen katalanischen Präsidenten Artur Mas und Carles Puigdemont bis zur Sattheit wiederholt. Es ist unbestritten, dass Katalonien einen negativen Haushaltssaldo mit dem Rest Spaniens aufweist. Das Defizit beruht auf demselben Solidaritätsmodell wie die Europäische Union: Wer mehr hat, zahlt mehr. Nach demselben Prinzip haben auch andere reiche Regionen Spaniens einen negativen Haushaltssaldo, allen voran Madrid, das das katalanische Defizit in absoluten Zahlen bei weitem übertrifft.

 

Die spanische Verfassung und das Fiskal-System sind uns vom Zentralstaat aufgezwungen worden.

Dass der Autonomen Gemeinschaft Katalonien kein privilegiertes Steuersystem zusteht wie dem Baskenland oder Navarra, liegt daran, dass die katalanische Regierung im Jahr 1980 einen dem baskischen Modell entsprechenden Vorschlag abgelehnt hat.

Genauso wenig ist die spanische Verfassung den Katalanen aufgezwungen worden. Katalonien unterstützte in der Volksabstimmung von 1978 mit 91% Ja-Stimmen die aktuelle Verfassung und gehörte damit zu den Regionen mit dem höchsten Zustimmungsanteil. Notabene, zwei der sieben ¨Väter der Verfassung von 1978» waren Katalanen.

 

Spanien ist ein zentralistischer Staat.

Der Grad der Autonomie ist in Spanien regional unterschiedlich. Katalonien verfügt über eine Selbstverwaltung mit Regierung und Parlament, ausserdem über weitgehende Kompetenzen in Kultur, Sprache, Gesundheitswesen, Erziehungswesen, Forschung, Strafrecht und Infrastruktur. Der Selbstbestimmungsgrad liegt damit nicht weit weg von dem eines Schweizer Kantons oder eines deutschen Landes. Nach dem «Regional Authority Index» von Gary Marks (University of North Carolina 2010) kommt Katalonien auf einen Dezentralisationsindex von 23,5 (im Vergleich dazu: Wales 15,5, Italien 18, Österreich 23. Schweiz 26,5, Deutschland 27)

 

Europa braucht uns, deshalb wird die EU uns nach der Abspaltung von Spanien die Türen öffnen.

Ein Mythos, der sich zäh am Leben hält – trotz gegenteiliger Statements aus der Europäischen Union.

 

Wir sind politisch unfrei und unsere Meinungsfreiheit wird unterdrückt.

Wer das Gefängnis und den Maulkorb leugnet, ist ein Verräter. Da kann man noch so auf die Tatsache hinweisen, dass die separatistische Gemeinde ihre Meinung seit Jahren an unzähligen Massendemonstrationen – auf Plätzen und Strassen, an Hauswänden, in Schulbüchern, an den Fassaden der Stadthäuser, auf den Baumwipfeln, an Berghängen und in den mit staatlichen Geldern finanzierten Radio- und Fernsehkanälen –  ungestraft mit Fahnen, Spruchbändern und gelben Lassos kundtun darf und damit die öffentlichen Räume monopolisiert.

 

Erziehung in Catalanitat

 

Zum doktrinalen System an Schulen, Universitäten und staatlichen Institutionen gehören politische Indoktrination, Geschichtsfälschung und – damit sich die Schüler emotional mit dem katalanischen Nationalismus identifizieren – Erziehung in catalanitat (so etwas wie patriotisches und kulturelles Identitätsbewusstsein).

Auf Landkarten wird Katalonien in einigen Schulbüchern der Primarschule bereits als eigenständiges Land der Europäischen Union dargestellt und die catalanitat wird erweitert auf die Països Catalans: ein Grossreich, das Valencia, die Balearen, Andorra und das französischen Roussillon (Catalunya del Nord) umfasst. Die Krone von Aragonien, zu der Katalonien im Mittelalter gehörte, wird umgetauft in Corona Catalano-Aragonesa, um den Schülern die historische Unabhängigkeit Kataloniens einzubläuen.

Die langjährige Indoktrination hinterlässt Spuren. Viele Schüler der öffentlichen Schulen glauben, der Spanische Bürgerkrieg sei eine Art Freiheitskrieg der unterdrückten Katalanen gegen das faschistische Spanien gewesen. (Dabei war Madrid die große republikanische Bastion. Die Hauptstadt leistete am längsten Widerstand gegen die aufständischen Truppen unter General Franco.) Sie haben gelernt, dass die Immigration aus anderen spanischen Regionen ein perfider Plan war, eine Art kultureller Genozid, um die katalanische Kultur und Sprache zu dezimieren, zu verunreinigen oder zu liquidieren. Viele, die zu Hause Spanisch sprechen, müssen anhören, wie man ihre Eltern und Grosseltern, die vor über fünfzig Jahren aus Andalusien, Extremadura oder Murcia eingewandert sind, immer noch Immigranten nennt und ihre Kultur als minderwertig bezeichnet. Folge: Sie schämen sich ihrer Herkunft und verbergen sie.

 

Gesinnungsdiktatur

 

In den Schulhöfen und auf den Strassen hört man immer wieder den rhythmisierten Schlachtruf ganzer Schulklassen, oft angeführt von ihren Lehrern: I-Inde-Independencia. Befreundete Eltern haben mir erzählt, der soziale Druck an den öffentlichen Schülern sei so gross, dass ihren Kindern nicht zuzumuten sei, sich solchen Zwängen zu widersetzen. Sie hätten ihren Kindern beigebracht, stattdessen I-Inte-Inteligencia zu singen. Der kleine Unterschied geht im Geschrei unter.

Studentengruppen, die ihren andersdenkenden Kommilitonen im Namen der Freiheit den Zugang zu den Universitäten verwehren, werden für ihr patriotisches Handeln von der Obrigkeit belohnt: Die Universität Girona erlässt allen Studenten, die Wichtigeres zu tun haben als zu studieren – nämlich zu streiken, zu demonstrieren, Strassen zu verbarrikadieren oder Züge zu sabotieren – ihre Examen. Vielleicht schenkt man ihnen dann auch noch ihre Abschlüsse: honoris causa.

Für Schüler, Studenten und Beamte in öffentlichen Institutionen ist der Druck gross. Andersdenkende oder Unbeteiligte – darunter vor allem Studenten aus anderen spanischen Regionen – werden als Faschisten verschrien. Wer bei der Sache nicht mitmacht, steht im Abseits, wird stigmatisiert und geächtet. Und vor allem von jungen Katalanen erfordert es viel Mut, gegen den nationalistischen Mainstream zu schwimmen.

Der cantautor Joan Manuel Serrat, gefeierte Ikone der katalanischen Kultur und Vorkämpfer gegen die politische und kulturelle Intoleranz, ist jetzt Verräter der Nation (botifler), weil er es wagt, die Unabhängigkeitsbewegung zu kritisieren und – was für ein Sakrileg! - auf Spanisch zu singen. Sein früherer Kampfgefährte der Nova Cançó, Lluis Llach, hat sich hingegen zur Orthodoxie bekannt und sich als Abgeordneter für die katalanische Sache ins Regionalparlament wählen lassen. Dort hat er sich lauthals dafür stark gemacht, dass man katalanische Beamte – darunter figurieren neben Lehrern auch die katalanischen Polizisten (Mossos) - bestrafen soll, falls sie dem spanischen Staat und dessen Verfassung die Treue halten.

Es geht, wie bei Sekten und Religionen, nicht nur um Glaubenssätze. Es geht um die Wahrheit. Die Meinungshoheit liegt hier beim öffentlichen katalanischen Fernsehen. TV3 gleicht einem Propagandasender, der mit Hilfe von Staatsgeldern dafür sorgt, dass möglichst keine Andersdenkenden den Gottesdienst stören. Die andere Wirklichkeit wird einfach ignoriert.

Man streitet längst nicht mehr über Ideologien und Glaubenssätze, man streitet vor allem über Tatsachen. Was für Aussenstehende offensichtlich Lügen sind, sind für die Anhänger unantastbare Axiome. Wenn ich mich bei seriösen Zeitungen wie El País oder La Vanguardía informiere, haben sie für mich nur ein Lächeln übrig.

Und wie bei allen Sekten lässt man nur noch die Seinigen gelten, alles was von den Ungläubigen kommt, ist Lüge. So muss man seine eigenen Annahmen nicht mehr bestätigen, nicht mehr kontrastieren. Man versichert sich gegenseitig die Unterstützung und pflegt die Mythen. Zusammen lügt es sich besser. Was nicht ins Weltbild passt, alles was spanisch klingt, riecht oder schmeckt, wird diffamiert, als Faschismus, Kolonialismus, Diktatur verschrien und als Fremdkörper ausgestossen.

 

Masse und Macht

 

Für dieses totalitäre Verhalten liefert Elias Canetti in seinem Werk «Masse und Macht» eine beunruhigende Beschreibung: Das Andersartige gefährdet das «Überleben» der Masse, denn es zeigt Alternativen auf zum Zustand der Gleichheit. Und so kommt es schliesslich zur «Zerstörungssucht», zur Gewalt. Um ihr eigenes Überleben zu sichern, will sie das Fremde assimilieren oder vernichten und Abtrünnige aus der Masse ausspucken.

 

 

 Das Urteil

 

War die Ausrufung der Republik ernst gemeint, symbolisch, Provokation oder pure Pantomime, um das Fussvolk bei der Stange zu halten? Ich glaube, dass der nach Belgien geflüchtete Ex-Präsident Carles Puigdemont und der im Gefängnis sitzende Ex-Vizepräsident Oriol Junqueras den Deutungsspielraum zwischen Theater und Wirklichkeit mit Kalkül ausgenützt haben. Genau dieser Spielraum macht es schwierig, das Delikt klar zu beurteilen. Aber es sieht so aus, als hätten die spanischen Richter diesen Deutungsspielraum auf ihre Weise genutzt und die Unschuldsvermutung – im Zweifel für den Angeklagten – unterdrückt, um ein Exempel zu setzen. Also doch ein politisches Urteil? Zumindest ein dummes Urteil, weil es den katalanischen Separatisten genau das liefert, was sie brauchen: Märtyrer. Ich finde, die politischen Führer gehören nicht ins Gefängnis. Aber unschuldig? Gäbe es ein Gesetz gegen Volksverarschung, hätten sie hierfür den Schuldspruch verdient.

 

 

Die gespaltene Gesellschaft

 

Jede Nation legt sich eine Geschichte zurecht, hat ihren narrativen Kitt. In Katalonien haben wir zwei Geschichten. Sie sind kontradiktorisch: Das Argument der einen Geschichte wird zur Lüge in der anderen. Oder sind sie komplementär wie die zwei Seiten derselben Münze: Wer die eine Seite zeigt, verdeckt die andere? Wir befinden uns im Land der Fakes. Wie findet man hier noch einen Rest Wahrheit? War die Unabhängigkeitserklärung wirklich, oder war sie nur symbolisch? Man fühlt sich wie im Theater: Was vorgespielt wird, schafft Raum für Interpretationen aller Art, aber keine verbindliche Wahrheit. Nur Zeit, Ort und die Protagonisten deuten darauf hin, dass wir dasselbe Stück sehen.  

Welche Geschichte ist wahr, welche falsch? Die Frage greift zu kurz. Es geht vor allem darum, in welcher Wirklichkeit man lebt - und damit in welcher Gesellschaft. Die katalanische Gesellschaft ist gespalten in zwei Lager, und das bedeutet primär zwei Ansichten, zwei Wirklichkeiten und zwei angebliche Faktenlagen. Die Wahrheit ist politisch sekundär geworden.

Der Konflikt spielt auf einer irrationalen Ebene: er ist emotional und leidenschaftlich wie bei einem Clásico: Barcelona gegen Madrid. Man ist für die einen oder für die anderen. Und ist man für die einen, ist man gegen die anderen. Die katalanische Gesellschaft teilt sich auf in das Lager der Gläubigen (die Unseren:  nosaltres) und der Ungläubigen (die Anderen: els altres). Und auch hier ist es wie bei den Aficionados im Fussball: die Bande, die diese zusammenhalten, sind oft stärker als alle anderen. Sie zerschneiden Familien und trennen Beziehungen; viele Freundschaften lassen sich nur retten, indem man das Thema tunlichst meidet. Aber Schweigen ist auf die Dauer anstrengend, und so lässt man seine Meinung - und vor allem seine Wut auf die Anderen – zunehmend nur noch unter Gleichgesinnten aus.

Wir sind alle Betroffene: Äquidistanz gibt es nur für Aussenstehende. Eine neutrale, objektive Geschichte zu erzählen ist für jemand, der hier wohnt – also auch für mich - unmöglich. Und wer nicht hier wohnt, kann die Dynamik und die soziale und psychologische Reichweite dieses Konflikts kaum verstehen. Ich habe hier – das ist dem Leser bestimmt nicht entgangen – Partei ergriffen. Ich schreibe als Betroffener: subjektiv, befangen, einseitig. Nur 42 Prozent der Einwohner Kataloniens wollen die Unabhängigkeit. Ich gehöre zur demografischen Mehrheit, die sich von der bewegten Masse an die Wand gedrückt fühlt.

 

Revolution von oben

 

Viele Europäer hegen Sympathie für die Erzählung des «unterdrückten» Volks, sie zeigen Empörung über das Urteil und Solidarität mit den Verurteilten. Das verklärende Bild von Katalonien macht deutlich, dass die Separatisten ihre Version als die Geschichte des katalanischen Volks im Ausland gut verkaufen - oder vielleicht auch nur, dass man auf die Mär vom gebeutelten Volk mit einem moralischen Reflex reagiert und die kritischen Bedenken verliert.

Bitte keine falsche Sozialromantik! Es handelt sich überwiegend um einen Aufstand von wohlhabenden Bürgersöhnen und -töchtern, von Beamten und Angestellten aus der gesicherten sozialen Mittel- und Oberschicht und von machtbesessenen Politikern, denen die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Konflikts egal sind. Eine Revolution von oben sozusagen. In der klassischen Arbeiterklasse findet die Bewegung kaum Unterstützung; Arbeiterinnen und Arbeiter müssen arbeiten und haben keine Zeit für wochenlange Zelt- und Blockaden-Events auf Autobahnen und Sit-ins auf Strassenkreuzungen. Und sie haben andere Probleme, denn der Unabhängigkeitsprozess (el procés) trifft sie als Leidtragende: In der Autofabrik SEAT in Martorell (Barcelona) zum Beispiel zittern sie jetzt um ihre Arbeitsstellen, weil die Betriebsleitung wegen der ständigen Strassen-Blockaden und des politischen Drucks erwägt, die Fabrik ins Ausland zu verlegen.

Der Druck der separatistischen Bewegung, die unstabilen politischen Verhältnisse und die ständigen Blockaden bedrängen die katalanische Wirtschaft. Seit dem 1. Oktober 2017 haben über 5000 Unternehmen Katalonien verlassen und ihren Sitz in andere spanische Regionen oder ins Ausland verlegt. Eine Katastrophe für die von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise geplagte Region. Die verbleibenden Betriebe sollen linientreu getrimmt werden. Die ANC will, dass die öffentliche Hand keine Aufträge mehr an Unternehmen vergibt, die den Unabhängigkeitsprozess (el procés soberanista) und die offizielle katalanische Staatsdoktrin nicht unterstützen.

 

Wir sind anders

 

Katalonien ist eine multikulturelle Gesellschaft par excellence. Gerade mal 65 % der gegenwärtigen Einwohner sind in Katalonien geboren. Nach einer Statistik aus dem Jahre 1999 sind über 60% der heutigen Bevölkerung Einwanderer des 20. Jahrhunderts oder deren Nachkommen. Den grössten Anteil stellen die Binnen-Immigranten aus Südspanien. Allein in den fünfziger und sechziger Jahren sind eine Million Andalusier auf der Suche nach Arbeit nach Katalonien gezogen. Unter den 25 meistverbreiteten Familiennamen in Katalonien taucht heute kein einziger katalanische Name auf.

Den Weg zur Ethnophobie hat der Catalanismo vorbereitet, ein kultureller und politischer Nationalismus, der seit den sechziger Jahren dem katalanischen Bewusstsein eintrichtert, dass es anders sei als das spanische: Som differents – Wir sind anders. Kulturpolitik wird seither hauptsächlich als Landesverteidigung und Abgrenzung verstanden, als stände man an der Front: im Krieg gegen die Einflüsse der spanischen Kultur. Das geht bis zur Selbstverleugnung: Lieber Wagner als De Falla, lieber Goethe als Cervantes, und besser, wenn Deutschland die Fussball-WM gewinnt als Spanien. Wenn man Jahrzehnte lang das Anderssein betont, wird es schwierig, das Gemeinsame noch zu erkennen. Das gehörte wohl zum Kalkül der nationalistischen Parteien, und wie sich heute zeigt, ist ihre Strategie aufgegangen.

 

Wir sind besser

 

Der von Parteien und Regierung geschürte Kulturnationalismus hat sich allmählich zu einem Bewusstsein der Suprematie verschärft: Wir sind nicht nur anders, wir sind besser.

Jordi Pujol, Vater des katalanischen Suprematie-Denkens, bezeichnet die Andalusier in einem Buch als «inkohärente, anarchische, ruinierte, rohe Menschen», «im Zustand der Unwissenheit und des kulturellen, mentalen und spirituellen Elends». Hier wird die Grenze zum Rassismus überschritten – und kaum jemand empört sich. Als angesehener Präsident Kataloniens durfte sich Pujol in seinem Hausgarten solche Barbareien leisten.

Oriol Junqueras, Leader der grössten Independisten-Partei ERC, bleibt mit ethnografischen Perlen nicht weit hinter Pujol zurück:  "Die Katalanen haben mehr genetische Gemeinsamkeiten mit den Franzosen als mit den Spaniern.... und ein wenig mit den Schweizern.» Und im selben Atemzug: «Wir sind ein einziges Volk» und vor allem: «Wir sind gute Leute.» - Gut und Böse halt doch eine Sache des Volkes und seiner Genetik. Wer will’s den Katalanen verübeln, dass sie dabei etwas besser weggekommen sind!

 

Alte Gespenster

 

Die Kämpfer für ein freies Katalonien sind von Anfang an von einem Dämon geritten worden, der nun sein wahres Gesicht zeigt. Er trägt einen dreifachen Namen: Einheit, Einzigkeit und Einigkeit. Einheit der Ideologie, Sprache und der Kultur; Einzigkeit und Einigkeit als Identität. Die Einheit hat keinen Platz für Zweiheit und Dreiheit, dafür schafft sie Zwietracht. Jenseits von ihr beginnt der Verrat, und darauf lautet der Schuldspruch für Abtrünnige: botifler (Verräter), und für die Ungläubigen: fascista.

Die mentale Kultur, die hier gedeiht, ist das Gegenteil von Pluralismus und löst bei mir beunruhigende Assoziationen zu dunklen Epochen aus, die man in Europa für überwunden hielt. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, wie es ist, wenn der kollektive Wahnsinn eins und einig die uneingeschränkte Macht übernimmt und die katalanische Republik gründet. Denke ich daran, was hier noch auf uns zu kommt - nämlich die Generation der Indoktrinierten – wird mir angst und bange.

 Alte Gespenster werden wach, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass die Dynamik, die Völker zu absurden ethnischen Kriegen wie in Ex-Jugoslawien oder zu kriegsähnlichen Zuständen wie im Baskenland geführt hat, emotional und logisch in Griffweite kommt. Vor einem solchen Land - ideologisch, kulturell und sprachlich von Fremdkörpern gesäubert – graut mir. Da bleibe ich lieber im rauen, streitsüchtigen, uneinigen und vulgären Spanien.

 

In der Sackgasse

 

Es fragt sich, ob die separatistischen Parteien Kataloniens und die spanischen Rechtsparteien wirklich an einer Lösung interessiert sind. Beide Seiten profitieren von der unstabilen Situation, beide nähren sich von der Unzufriedenheit der Wähler und schüren sie. Das wirkliche Moto heisst auf beiden Extremen: Je schlimmer, desto besser für uns. Deshalb werden die separatistischen Parteien eine linke Koalitionsregierung in Madrid kaum unterstützen – das gilt sowohl für die rechte Junts pel Catalunya als auch für die linke ERC und die antikapitalistische CUP –, denn die beiden nationalen Linksparteien PSOE und UP wären mit ihrer Dialogbereitschaft möglicherweise in der Lage, die Situation zu entschärfen und der separatistischen Bewegung das Wasser abzugraben. Die separatistischen Parteien wünschen sich lieber eine Rechtspartei mit der Politik der eisernen Faust. Ihre Politik braucht ein klares Feindbild.

Vielen Katalanen – selbst solchen, die mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisieren – geht der Procés soberanista allmählich zu weit. Die Massenbewegung hat eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, die niemand mehr zu steuern oder zu bremsen vermag. Auch manchen separatistischen Politikern ist die Sache nicht mehr ganz geheuer. Sie haben gemerkt, dass sie in einem Zug mit führerloser Lokomotive sitzen. Nun haben sie Angst davor, in voller Fahrt abzuspringen. Oder vielleicht ergeht es ihnen wie einem Aktivisten der anonymen Organisation Tsunami Democràtic, der die permanente Mobilisierung mit einer Radfahrer-Metapher beschrieb: «Wenn du nicht mehr in die Pedale trittst, fällst du.»

Ein legales Referendum scheint der einzige Ausweg aus dem Konflikt. Nur, was machen wir mit den Verlierern? Das ist die Ohnmacht der Demokratie: gegen den kollektiven Wahnsinn kommt auch sie nicht an.

                 

                                                                       Barcelona, Dezember 2019