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Linas Baum (Roman)

 

 

Nach vierjähriger Arbeit ist mein Roman Linas Baum endlich unter Dach. Er wird 2024/2025 im unabhängigen Leipziger Literaturverlag erscheinen.

Verlags-Website: https://www.l-lv.de/

  

Ihr macht mir einen grossen Gefallen, wenn ihr das Buch vorbestellt. Sobald genügend Vorbestellungen eingegangen sind, geht das Buch in den Druck. 

 

Vorbestellung zum Subskriptionspreis:  https://l-lv.de/neu/ruch-karl-gustav-linas-baum.html

 

 

DAS BUCH

 

Linas Baum erzählt die Geschichte der Schwedin Lina Carlsson, die in den 50er Jahren in die Schweiz einwandert. Nach ihrem Tod entdeckt Sohn Henrik das verborgene Leben seiner Mutter. Es ist ein literarischer Roman um Liebe und Tod mit Spannungselementen aus dem Genre des Detektivromans.

Lina Carlsson, die Protagonistin, wächst in den zwanziger und dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts im Schoss der Eisenhütten-Familie Carlsson im schwedischen Bergbaugebiet Bergslagen auf. Mit Zwanzig bestätigt sich ein Verdacht, den sie schon lange gehegt hat: dass sie nicht in diese Familie gehört. Sie ist als zweijähriges Mädchen von dem bis anhin kinderlosen Paar Carlsson adoptiert worden. Lina macht sich auf die Suche nach ihrer Herkunft. Als sie in Stockholm ihren biologischen Vater, einen Wettschwimmer und Bademeister, aufspürt, entwickelt sich eine verhängnisvolle erotische Beziehung, die den Rahmen einer normalen Vater-Tochter-Beziehung sprengt. Um der unheilvollen Verwicklung zu entkommen, heiratet sie einen Schweizer und zieht mit ihm anfangs 50er Jahre in die Schweiz, wo sie ein Leben lang so fremd und allein bleibt wie ihre Lieblingslinde abseits des Waldes. Sie wendet sich von der Gegenwart ab und zieht sich in ihren letzten Lebensjahren in ihre Geisterwelt zurück, in der sie mit ihren toten Ahnen und ihrem Vater-Geliebten verkehrt. Als Lina stirbt, soll ihre Asche unter ihrem Lieblingsbaum in den Wind gestreut werden – ein Wunsch, den ihr die Familie nicht erfüllt. An der Bestattung auf dem Friedhof findet Henrik, Linas Sohn, einen Blumenstrauss mit der Inschrift: Ich liebe dich für alle Zeit, Henning.

Mit dieser Szene beginnt das Buch. Henrik wird zum Ermittler. Er beginnt im Nachlass nach dem verborgenen Leben seiner Mutter zu forschen und stößt dabei auf Fotos, Liebes- und Abschiedsbriefe von einem Lars und einem Henning. Wer ist Lars, wer Henning, wer ihr biologischer Vater? Henriks Mutter hat in der Familie nie von früheren Beziehungen mit Männern erzählt, auch nicht von ihrer Adoption und ihrem biologischen Vater. Henrik reist auf den Spuren Linas durch Schweden und lernt so eine andere Frau kennen als jene, die er als seine Mutter kannte. Sie wird ihm mehr und mehr zum Mysterium.

 

Umfang: ca. 280 Normbuchseiten  

 

 


      LESEPROBE

 

Eigentlich wollte Lina auf keinen Fall auf einem Friedhof begraben werden, nein, ihre Asche sollte unter ihrem Lieblingsbaum – dem Weltenbaum, wie sie ihn nannte – in den Wind gestreut werden. Es war ihr letzter unziemlicher Wunsch gewesen, erstens nicht auf einem Friedhof und zweitens nicht begraben, sondern auf dem Hügel über dem Dorf als Asche in den Südwind gestreut zu werden; unter einer windschiefen, knorrigen Winterlinde mit weitausgreifenden Ästen, die so deplatziert und erratisch auf dem Feld stand wie Lina in ihrem Leben. Wieso Südwind, hatte er sie bei ihrem letzten Treffen vor zwei Wochen gefragt. Weil Südwind mich nach Hause trägt, in den Norden, sagte sie. Nordwind wäre auch gut, denn der kommt von zu Hause und bringt mich an einen wärmeren Ort. Meine Asche muss in die Luft, Windstille geht nicht, dann fällt Asche auf Boden und bleibt hier, und hier ist weder warm noch kalt, es ist gemässigt: gemässigtes Klima, gemässigtes Temperament, gemässigte Politik, mässig lieb, mässig hübsch und saumässig dumm, ich friere, friere, ein Leben lang ich habe hier gefroren, aber ich friere nicht an Kälte wie in Schweden, sondern … das Ende des Satzes und die nächsten Sätze hatte er nicht verstanden, denn das Artikulieren bei aufgeschnittener Luftröhre mit Sprechkanüle fiel seiner Mutter schwer.

 

Nachdem er sich die letzte Aufnahme auf dem Diktiergerät noch einmal angehört hatte, glaubte er, in ihrem Lallen ein schwedisches Schimpfwort herauszuhören, das er zwar kannte, aber nie richtig verstanden hatte. Nach einer Pause, während der man nur ihr angestrengtes Keuchen hörte:

Meine Kindheit war grün. Weiss nicht, ob ich glücklich war, kommt auf Grünton an. Ich will nach Haus! – Ein Satz wie ein Denkmal. Darauf sprach sie wieder von ihrem letzten Wunsch und dem Lieblingsbaum, aber der stand nun nicht mehr auf dem Hügel über dem Dorf, sondern im Garten der Villa Elmersbacke in ihrem Heimatort Vasselby. –  Eine nordische Birke, breitet ihre grünen Arme schützend über Garten, streckt sich bis zur Veranda, am dicksten Arm pendelt eine Schaukel, ich schaukle hinauf bis in Himmel und unter mir tanzt schwarz-weisses Rautenmuster, schwarz und weiss und auf und ab, ich will nach Haus!

Welcher Baum ist es nun, bei dem du bestattet werden willst?

Weltenbaum im Garten. Der mit kosmischer Weltseele, er ist mit seinem Wurzelwerk verbunden mit den Seelen von allen anderen Bäumen.

Morphium, sagte die Krankenschwester, Ihre Mutter ist etwas verwirrt.

Henrik nickte und dachte: Das ist eine ausreichende Antwort für jemanden, der sie nicht kennt. Aber eigentlich gibt es niemand, der Lina kennt. Zurück zu den Toten wollte sie. – Bei den Toten ist es warm, bei den Toten ist es still, und die Toten, sie mögen sie. Schon seit Jahren unterhielt sie sich mehr mit den Toten als mit den Lebenden, sie sprach mit ihrem persönlichen Tod, als hätte er Ohren, redete mit ihren förfäder, den Ahnen, zog, wenn sie von ihnen erzählte, das deutsche Wort singend in die Länge, bis es so schwedisch klang, dass es niemand mehr verstand ausser den Eingeweihten – und sie kehrte heim, heim nach Schweden, zu ihrer geliebten Tante, moster Ingrid, der sie auf langen Streifzügen durch den verhexten Elmerswald alle ihre Geheimnisse anvertrauen konnte; heim zu Nanny, dem Kindermädchen, das ihr an den dunklen Wintertagen die zu Hause verbotenen unchristlichen Geschichten erzählte, mit Vorliebe solche von gruseligen Trolls, die kleine unartige Kinder rauben; zu farfar Olle, dem Grossvater, der seine geliebte Geige an Heiligabend ins Kaminfeuer warf; sie reiste heim in die Villa Elmersbacke, wo Tante Ingrid, Nanny und Grossvater Olle immer noch als verlorene Seelen im Dachstock herumirrten.

Lina erzählte in ihren letzten Jahren immer dieselben Geschichten; sie gehörten zu ihrer Reise zurück in die Vergangenheit. In den letzten Monaten vor ihrem Tod begann sie mehrmals eine Geschichte zu erzählen, die er noch nie gehört hatte, in der sie zusammen mit ihrer Jugendfreundin Mebel kurz nach dem Krieg nach Italien reiste … aber sie kam nie über die anstrengende Zugreise durch das kriegszerstörte Deutschland hinaus, und sobald Henrik mehr erfahren wollte, gab sie selbst auf beharrliches Nachfragen nicht mehr preis als Lassen wir alte Geschichten, über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, ein Schimmer von Glück, sie machte zwei tiefe Atemzüge – ein, aus – und sagte: Men nej, das geht niemand etwas an. Dabei wischte sie mit der Hand vor den Augen, als müsste sie Fliegen vertreiben.

 

Henrik hatte sie bei seinem letzten Besuch am Spitalbett einmal mehr angehalten, aus ihrem Leben zu erzählen. Das Aufnahmegerät, in dessen Gegenwart sie sich beim letzten Besuch geweigert hatte zu sprechen, hatte er dieses Mal in seinem Rucksack versteckt.  – Erzähl bitte von der Geburt an und schön der Reihe nach. Vergeblich: Mein Leben beginnt mit Tag, als ich erwache. – Chronologisch! insistierte Henrik. – Erinnerungen springen! Natürlich hatte sie recht, aber als Zuhörer verliert man die Orientierung, wenn man immer hinterherspringen muss; ausserdem hatte Lina einen entscheidenden Vorsprung: sie war dabei, als es geschah.

Lina machte dann den Versuch, etwas wie ein Zeitsystem in ihre Erzählung zu bringen, benützte temporale Konjunktionen – darauf, vorher, nachher – aber sie hielt sich nicht an eine Zeitachse, sondern sprang in Raum und Zeit umher: von der Reise in die Schweiz mit den zwei grossen Überseekoffern – Kind an der Hand, Pfeifen im Ohr – zum Unfall ihres Bruders Pelle, der in einer kalten Januarnacht drei Stunden im Schnee steif gefriert, dann zu ihrer Paralyse, die sie in den Rollstuhl wirft und an der sich Rheumatologen, Herzspezialisten und Virologen erfolglos üben, bis ein psychologisch versierter Arzt sie wieder auf die Beine bringt, dann wieder zum kleinen Kind, das sich an der Schaukel an einem Birkenast in den Himmel schaukelt, unter ihr bewegt sich ein schwarz-weisses Rautenmuster, schwarz und weiss und auf und ab. Hin und her pendelt die Erzählung wie ihre Schaukel und findet, wenn sie ausschwingt, immer wieder zurück zum Ausgangspunkt: Mein Leben beginnt mit Tag, an dem ich erwache. Es war Henrik nie klar, worauf sie sich mit diesem Satz bezog. Was meinte sie mit Erwachen? Lina hüpft über die Fliesen und nähert sich der Tür. Wieso sind Gänge mit Rautenmustern immer so lang? Schwarz-weiss-schwarz bis zur Türschwelle. Schwarz gewinnt. Bitte klingeln und warten! Lina drückt die Klingel und wartet. Etwas mit ihren Papieren muss geklärt werden, hat Frau Hansdotter, ihre Haushaltslehrerin und Tutorin, gesagt. Eine Kleinigkeit, eine Formalität, Ihre Geburtsurkunde … Die Geburtsurkunde? Lina wartet, denn sie ist ein braves Kind und hat gelernt zu warten: beim Essen, beim Spielen, vor dem Weihnachtsbaum; ein Fräulein ist geduldig und zeigt niemals Unruhe. Aber Lina ist unruhig. – Fröken Carlsson, sind Sie sicher, dass Sie in Lindesberg geboren sind? – Fröken Carlsson, eine Geburt auf Ihren Namen ist hier nie registriert worden. Da ist er wieder, der Zweifel, der sich seit Jahren wie eine dunkle Wolke vor den Elmersbacker Himmel geschoben hat. Mama und Papa verschweigen ihr etwas! Nein, es ist ihr eigener Schatten, der sich auf sie gelegt hat, weil sie ein böses, undankbares Kind ist, das Mama und Papa nicht genug liebt. Als die Erzählung schliesslich das entscheidende Ereignis einzukreisen schien, brach Lina ab mit den Worten: Henning, ich bin müde, muss etwas ausruhen. Machen wir nächstes Mal weiter, versprochen.

Mama, ich heisse Henrik. Wer ist Henning?

HENNING - Die Laute kamen ihm vertraut vor. Sie brachten Aufregung ins abendliche Familienleben. Das Telefon läutet im Wohnzimmer. Ich gehe, ruft Lina und rennt schnell ans Telefon. Aber manchmal ist Henrik schneller. – Hej, det är Henning! brummelt eine melodische Fagottstimme am Telefon, äh – dann ist Lina schon am Telefon und nimmt ihm den Hörer aus der Hand. Sie hält die Hand auf die Hörmuschel und die Fagottstimme verstummt.

Mama, wer ist Henning?

Henning, murmelte sie und döste weg.

Es war das letzte Mal, dass Henrik seine Mutter sprechen sah. Dann dämmerte sie ein.  – Morphium! wiederholte die Pflegerin, als müsste sie Lina vor ihrem eigenen Sohn entschuldigen.

 

Lina hatte in ihren letzten Lebensjahren ihre Gedanken und Erinnerungen in Briefen und Tagebüchern aufgeschrieben. Sie glichen dem Wildwuchs der windschiefen Linde am Waldrand, deren Äste auseinandertrieben oder sich kreuzten, aber sie wuchsen immer in dieselbe Richtung: zum Tod, zur Transformation vom Materiellen zum Geistigen, zur Seelenwanderung und zur Wiedervereinigung mit den Seelen ihrer Ahnen, zur Liebe zu ihnen, zur Weltseele und zur kosmischen All-Liebe. Ihre Erkenntnisse wiederholte sie wie Mantras, die in ihren letzten Jahren in Form von bunten Zetteln an Wänden und Türen klebten. Darauf standen neben Zitaten von bekannten Autoren auch Sätze aus der eigenen Feder, in oft unbeholfenem Deutsch.

Tod ist Geburt von Schwerelosigkeit.

Bin eingedrungen in Ursprung von Welt.

Leben ist Vorbereitung auf Tod.

Sie sagte immer, dass sie dem Tod nahe war, nur verstand man das bei ihr nicht so wörtlich.

Neugierig auf Tod.

Je näher dem Tod, näher dem Leben.

Alle Wege führen zum Tod.

Kurz vor ihrem Tod flüsterte sie ihm am Telefon mit dünner Stimme:

Freue mich auf Zeit im Jenseits, habe im Diesseits nicht mehr viel zu sagen.  Auf dem Weg …  Verschmelzung mit den Seelen der Verstorbenen, liebe die Toten … gehe jetzt heim … heim zu meiner Familie.

Heim, nach Hause … Solche Sätze hatte sie immer wieder gesagt in den letzten Jahren. Sprach sie über ihren bevorstehenden Tod oder allgemein von ihren Jenseitsvorstellungen? Dann sandte sie Henrik ihren letzten Satz:

Höre schon die Toten lachen.

Wieso lachen sie? fragte Henrik.

Freuen sich auf mich.

 

Als Henrik seine Mutter wiedersah, zog man sie auf einer Bahre aus dem Kühlraum. Die Leiche, die auf einer Etikette an der grossen Zehe den Namen seiner Mutter trug, war steif und kalt, ihr Gesicht eine Maske aus weissem Alabaster. Er griff nach ihren gefalteten Händen und liess sie vor Schreck gleich wieder los. Mama, mit diesen Händen hast du mir die Kindheit erwärmt! Totenstarre, rigor mortis! Vor dem Wort schauderte ihm mehr als vor den kalten Händen. Da lag sie nun und hatte ausgehaucht. Ihr Mund blieb verschlossen. In diesen bleichen Lippen hatte vor wenigen Stunden noch das Leben gezittert. Nun kein Zeichen mehr von Leben, nicht die zarteste Welle geht über ihre Gesichtszüge. Eine verlassene Körperhülle, die ihn an eine Larve erinnerte, an eine ausgeschlüpfte Libellenlarve, wie er sie als Junge gesammelt hatte. Lina ist geschlüpft. Der Satz gefiel ihm, aber spendete keinen Trost. Der irdische Ablösungsprozess war zu Ende, und nun: war sie das, was sie immer hatte sein wollen: reiner Geist, abgelöst vom unseligen Fleisch? Erst die hinaufgebundene Kinnlade rief ihm ins Bewusstsein, dass aus diesem Mund nie mehr ein Satz kommen würde. Lina ist heimgegangen, wie sie sagen würde; vier Tage vor ihrem 88. Geburtstag ist sie gegangen und hat die Tür hinter sich geschlossen, endgültig. Lisa ist tot. TOT, was für ein Wort. Schon die drei Buchstaben - ein schreckoffener Mund eingekeilt zwischen zwei Spitzhacken - schlagen alles tot, was darum herum noch leben könnte. Nicht zu reden von der Aussprache der an- und auslautendenden Konsonanten, die zurecht den Namen Explosionslaute tragen, weil sie erst im Mund, dann im Ohr und schliesslich im Kopf explodieren. Erst nach dem Schauder vor den Wörtern TOT, LEICHE, TOTENSTARRE, RIGOR MORTIS ergriff Henrik das Grauen vor Linas Leiche. Aber es war nicht ihr toter Körper, vor dem ihm graute, es war die Abwesenheit des Lebens: das Bewusstsein, dass dieses Leben nun nur noch in seiner Erinnerung existieren würde; ihm schauderte vor der Vorstellung, dass alles Lebende, und damit er selbst, nur Noch-Lebende und Bald-Leichen sind und in erdgeschichtlich irrelevanten 100 Jahren länger tot sein werden als lebend. Ist das Höchste, was wir dem Tod abringen können, von unseren Kindern geliebt, von den Enkeln noch erinnert und dann als Abbilder in verstaubten Alben in finsteren Abstellräumen dem Vergessen entgegen zu dämmern? Wir sind Opfergaben des Lebens, sinnierte Henrik, dem Tod geweiht. Das grosse Paradox des Lebens: Alles was lebt, will leben; aber alles, was lebt, geht zu Grunde: Leben ist Sterben. So einfach ist das. Es galt nicht für seine Mutter. Sie wollte nicht mehr leben und hatte geduldig auf den Tod gewartet.

Wir können Zeitpunkt nicht aussuchen, aber wir müssen bereit sein und Einverständnis geben, wenn Moment kommt. Wenn wir am Leben klammern, sind wir tot, bevor wir sterben.

Wo war sie jetzt? Unterwegs, in der Transformation, hätte Lina gesagt. Aber ihr Mund blieb verschlossen und ihre Hände waren kalt. Ihre Hände: mit dem Knötchen an der Handinnenfläche, an dem er sich als Kleiner festhalten konnte, wenn er Angst hatte; mit ihren gespannten Sehnen, den blau schimmernden Venen und den geröteten Knöcheln – sie hatten ihn durch die Kindheit geführt. Nun waren sie starr, die Fingerspitzen schimmerten bläulich, die Fingernägel waren lang und krumm. Hat man vergessen, sie zu schneiden? Wenn sie weiterwachsen, werden sie zu Krallen. Fingernägel und Haare sind die einzigen Körperteile, die nach dem Tod weiterwachsen, sagt man, die sich vom Gesamtorganismus selbstständig machen, sich noch einmal nach dem Leben strecken und weiterkeimen wie Pflanzen nach Jahrmillionen alten Vegetations-Gesetzen, als wären sie Petersilie oder Algen, als wollten sie zurück zu den evolutiven Ursprüngen, zu den Urorganismen und den ersten biochemischen Stoffwechseln. Alle anderen Körperteile und Organe geben nach Herzstillstand und Hirntod ihren Überlebenskampf auf, sie ergeben sich den Enzymen und Bakterien und leiten damit ihre eigene Zersetzung ein. Aber auch Zersetzung ist noch Leben oder, was hier dasselbe meint, Sterben.

Henrik nahm ein kleines Sackmesser, das er immer in seiner Hosentasche trug, und schnitt eine Locke aus dem noch lebenden weissen Haar seiner Mutter. Er küsste die beiden kalten Wangen, drückte die steifen Hände und eilte aus der Leichenhalle. Schon unter der Tür wusste er nicht mehr, wieso er gelaufen war: Lief er vor Mutters kalten, abweisenden Wangen oder vor seiner eigenen Kälte? Er stand mit Linas weisser Locke in den Fingern vor dem Spital herum und wusste nicht wohin damit. Lina ist tot. Der Würgeengel kam, griff nach seinem Hals und schnürte ihm die Kehle zu; er kam immer wieder in den folgenden Tagen, gemahnte ihn an seine tote Mutter, an den Tod, an seinen Tod. Als er das Spital verlassen wollte, kam ein Leichenwagen angefahren und hielt vor dem Eingang des Leichenschauhauses. Henrik näherte sich und sah, wie man einen Sarg in den Wagen schob. Auf dem Abdecktuch des Sargs lagen einzelne abgeschnittene weisse Haare. Dann begann alles zu strömen: die Gefühle, die Gedanken, die Beine. Er läuft, läuft mit der Haarlocke in der Hand ums Spital herum, in die eine Richtung, dann in die Gegenrichtung, ums Quartier herum und wieder zum Spital zurück, durch die halbe Stadt und wieder zurück zum Spital. Was hat er dort verloren? Was soll er mit Linas Locke in der Hand? Lauf Henrik, Mutter ist tot. Was immer wir uns mit diesem Wort vorstellen, unsere Vorstellungskraft bleibt auf der Seite des Lebens, sie reicht nur bis zum Grenzgelände, dem Sterben. Für Lina war der Tod die Pforte zu einem bewohnten Haus, doch der Tod ist nichts weniger und nichts mehr als Nichts, das schwarze Loch, in das wir fallen, in dem wir erlöschen, aber vor diesen Worten graut ihm mehr als vor dem schwarzen Loch selbst, wie soll man sich mit dem Nichts anfreunden, mit dem Feind des Lebens, dem Zerstörer – der Tod ist ein Verbrechen gegen das Leben, eine gemeine Niedertracht! Du musst dich mit Tod versöhnen, dann verliert sich alle Angst.

Lauf Henrik, lauf, solange man läuft, ist man gerettet.

 He, wo willst du hin? Eine Hand legt sich auf Henriks Schulter. Es ist Roger, ein alter Schulfreund. Er sieht auf die Locke, die Henrik in der Hand hält und macht eine fragende Miene. Komm, wir trinken ein Bier! An alles Weitere kann sich Henrik nicht erinnern. Es ist anzunehmen, dass es nicht bei einem Bier geblieben ist. Die weisse Haarlocke ist heute das einzige Relikt seiner Mutter. Sie wurde zur Reliquie in einem Bilderrahmen hinter einem sepia-braunen Foto, auf dem Linas trauriges Lächeln in die trübe Tönung strahlt.

 

Linas Gespräche mit der Totenwelt waren insofern etwas einseitig, als sie die Einzige war, die sich als Noch-Lebende in ihrer Welt aufhielt. Die anderen Bewohner waren tot, viele schon länger tot als lebend, aber das stellte für sie kein ernsthaftes Kommunikationsproblem dar. Sie war dem Gesetz der Steine, wie sie die physische Welt abschätzig nannte, immer weiter entflohen und war auf dem Weg von den Steinen zum Plasma, vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen, unterwegs zu den Toten. Sie kannte die Sprache und die Gesten der Toten und die Beziehungen mit ihnen hatten einen grossen Vorteil: Aus ihrem Ahnenreich konnte niemand ihren Fragen ausweichen, niemand sich ihrer spirituellen Monologe entziehen – und nie wieder würde jemand sie verlassen und allein zurücklassen in der Welt. Nie wieder? Als Henrik nachfragte, was sie damit meinte, wich sie aus. Das sei so eine Art Lebensgefühl, aber das habe sie überwunden dank dem Strom von Saraswatis feinstofflichen Wahrheiten, der durch sie fliesse… Ich atme mit Lunge des Universums. In ihrem grobstofflichen Leben war das ganz anders gewesen als im Totenreich: Wenn sie bei einer Familien- oder Verwandtschaftszusammenkunft Saraswatis feinstoffliche Wahrheiten zu verbreiten begann, wechselte man freundlich und verlegen nickend das Thema und sprach von den nächsten Karriereschritten, vom letzten Kinofilm, schimpfte über die Politik und das Scheisswetter, oder man erhob sich und stahl sich kopfschüttelnd vom Tisch. Die Toten rufen, hatte sie Henrik in den letzten Jahren ihres Lebens manchmal gesagt. Gehöre zu ihnen, sie verstehen mich, flüstern: Komm Lina, komm! In Träumen rede ich mit ihnen, hören mir stundenlang zu, höre ihre Stimmen, winken mir, geben mir Zeichen.

 

Bei der Besichtigung der Linde auf dem Hügel fand Henriks Schwester Brita, dass es den alten Frauen, die Linas geschrumpften Freundeskreis bildeten, nicht zuzumuten wäre, zuerst über jauchegetränkte Erdschollen zu stapfen und sich dann durch ein schneebedecktes Stoppelfeld auf den Hügel hinauf zu kämpfen, um sich anzusehen, wie die Familie Blumer Linas Asche in den Wind streute. Henriks Vater nickte zustimmend. Die Gräber sind für die Überlebenden, für ihre Erinnerungen; für Lina können wir nichts mehr tun, brummte er lakonisch, sichtlich bemüht, sachlich zu bleiben. Henrik stellte sich vor, wie er Linas Asche in die Luft werfen würde, wie der Föhnwind die alten Damen mit Linas Asche und Schlacketeilen bestreut und wie sie die Asche von ihren blau getönten Frisuren und Hüten schütteln. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er sich auf so eine Szene gefreut und heftig protestiert, wenn man diesen letzten Wunsch seiner Mutter nicht respektiert hätte, aber er fand die Vorstellung der weissen Asche im blauen Haar der alten Damen so grenzenlos traurig, dass er sich dem zustimmenden Nicken seines Vaters anschloss.

So kam es, dass Linas letzter Wunsch nicht respektiert wurde – falls er denn wirklich ihr letzter war. Lina und die mit ihr verbündete Natur sollte sich für die Untreue rächen, wie sich bald zeigen würde. Schon zwei Tage vor der Beerdigung lag Linas Knurren in der Luft und grollte tagelang weiter in Henriks Bauch. Bei der Besichtigung des Dorffriedhofs fand die Familie Blumer weder eine Linde noch eine nordische Birke, dafür eine Weide, die ihre Äste so schön traurig auf den Boden fallen liess, dass die drei überzeugt waren, damit einen perfekten Ersatz für die Linde gefunden und sich mit Linas letztem Wunsch einigermassen versöhnt zu haben.

 

Zwei Tage vor der Bestattung – die Einladungen waren bereits verschickt – teilte ein Angestellter der Gemeindeverwaltung Henrik am Telefon mit, dass auf dem Friedhof nur offizielle Erdbestattungen in Särgen oder Urnen gestattet seien. Die Asche dürfe auf keinen Fall frei auf dem Friedhof verstreut werden. Wo käme man hin, wenn man alle Toten in den Wind streuen würde. Zu einer Friedhofbestattung gehöre ein Ort, ein exakt definiertes Stück Erde, ein Grab und ein Grabstein, der die bestattete Person identifiziert. Punkt. Er klärte Henrik darüber auf, dass ein freies Ausstreuen der Asche ein heidnischer Brauch sei, der die christliche Menschenwürde missachte und den Menschen einem unbedeutenden Wurm oder einem Käfer gleichmache. Und überhaupt, so schloss er: Eine Mutter hat von ihrem Sohn mehr verdient als nach dem Ableben in den Föhnwind gestreut zu werden. Punkt. Meine Mutter war eng befreundet mit den Würmern und Käfern, wollte der Sohn sagen, aber die Wut und die Trauer erstickten seine Worte. – Eine Person braucht auch nach dem Hinschied einen Platz, fuhr der Gemeindeverwalter fort, und noch mehr brauchen die Angehörigen einen Platz, um dieser Person zu gedenken. Ein Friedhof bietet diesen Platz an. Die Luft ist kein Ort. Der Mensch gehört in die Erde. Punkt. – Je höher und weiter die Asche von solchen Beamten wegfliegt, desto besser für die Seele meiner Mutter, rief Henrik in die Hörmuschel, aber das war bereits nach dem letzten Punkt. Der Beamte hatte aufgelegt.

Lina rächte sich am Tag der Beisetzung. Der Himmel war grau wie ihre Asche. Ihr Zorn färbte sich blaugrau, legte sich als bleierne Regenwolke über den Friedhof und bespritzte die Trauergemeinde mit Regengüssen. Ich friere, hörte er sagen, aber der Satz kam von seiner Schwester. Die spärlich erschienen Trauergäste standen in kleinen Gruppen herum, duckten ihre Köpfe unter tropfende Regenschirme und Hüte, schüttelten in den Regenpausen Schirme, lupften Hüte, reckten flehend ihre Köpfe empor, als bäten sie den Himmel um Gnade und Versöhnung. Aber Linas Zornwolke war unerbittlich und entlud sich sogleich wieder über den schutzlosen Köpfen; die Schirme öffneten sich und die Hüte setzten sich wieder auf die Köpfe.