letzte Buchveröffentlichung:

Robert Lang, gescheiterter Schriftsteller und Gymnasiallehrer in der Midlifecrisis, stösst bei der Lektüre seiner Tagebücher auf ein verdrängtes Stück seiner Vergangenheit, die plötzlich wieder gegenwärtig wird: die Geschichte einer verpassten Liebe, die im katalanischen Grenzort Portbou 1990 ihren Anfang genommen hat; eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, in die zwei Männer und eine Frau verstrickt sind und die den Protagonisten vor über zwanzig Jahren aus der Bahn geworfen hat. Zwei Koffer und ihre Geschichten spielen schicksalhaft in das Geschehen. Befindet sich darunter der Koffer des unter mysteriösen Umständen in Portbou verstorbenen Philosophen Walter Benjamin mit dem verschollenen Manuskript? Als der Protagonist in Portbou und in Barcelona seiner früheren Geliebten und der vermutlich gemeinsamen Tochter nachspürt und – Fenster um Fenster, wie im Kaleidoskop seiner Kindheit –  nach dem «wahren Bild der Vergangenheit» forscht, gerät nicht nur er, sondern auch die Geschichte aus dem Tritt. 


Hockebooks, ISBN 9783957512352, erschienen am 14.02.2018

Buch erhältlich bei Amazon als Taschenbuch (12,99 €) und als E-Book (Kindle Edition, 6,99 €). 

 

 


Karl-Gustav Ruch

Das letzte Fenster

Roman

 

 

»Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei.«

(Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)

 

I. Fenster

18. August 2011

Robert! – So kann jeder heißen. Jeder Zwanzigste in Europa heißt Robert oder Roberto. Er

fühlte sich nicht angesprochen und hielt den Blick auf die Anzeigetafel gerichtet. LX 967,

Zürich, Abflug 14:50, zwanzig Minuten Verspätung. – Da habe ich noch gut eine Stunde.

Wenn das Einchecken nicht zu lange dauert, reicht es noch für ein Bier. Er machte sich an

seinem Gepäck zu schaffen.

Robert? Are you Robert?

Vor ihm stand ein glatzköpfiger Mann mit angegrautem rotem Bart. Eine halb geöffnete Leinenjacke

wölbte sich über dem dicken Bauch, der Hemdkragen war geöffnet und die gelöste

Krawatte baumelte nachlässig über dem weißen Hemd.

Sorry, sagte er betreten zu dem Fremden, do we know each other?

Robert! I’m sure you are Robert from Zürich, aren’t you? Wohin gehörte die Unterlippe, die sich beim Grinsen einseitig nach unten zog; dieser unverschämte Ulk, der um die Augen spielte und ihn zu verspotten schien, die knochigen Wangen mit dem scharlachroten Schmiss, in die das Grinsen jetzt gewandert war? Die dicke Nase, die

wie ein Baum aus den struppigen Augenbrauen wuchs, kam wie aus weiter Ferne auf Robert zu und suchte in seiner Erinnerung einen Platz. Der Fremde nahm die Brille von der Nase und öffnete die Arme zu einer Frage.

Wait …! Robert wollte Zeit gewinnen und suchte in seinem Gedächtnis nach dem Namen zu

diesem Gesicht.

Portbou!, rief der Mann und grinste.

Portbou?

But Robert! Portbou, remember?

Portbou. Natürlich, Portbou. Der Buchstabe B erschien, ein peinliches Gefühl, chromgelb.

Brian, sagte der Fremde und öffnete seine Arme.

Brian? I can’t believe it.

Yes, sir, it’s me!

Robert versuchte, alte Bilder abzurufen, die er mit dem Gesicht vor sich in Einklang bringen könnte: eine rotblonde Löwenmähne, ein buschiger Schnurrbart, eine spiegelnde Sonnenbrille, spöttisches Gelächter aus einem offenen Mund. Der Bart vor ihm war ein Wildwuchs aus roten und weißen Drähten, eine blanke Glatze mit einem grauen Haarkranz war der Mähne gewichen. Die unruhigen braunen Äugelchen taten dasselbe wie die seinen: das Gegenüber prüfen. Das ist Brian, das war Brian. Inwiefern ist jemand noch, was er nicht mehr ist? – Robert hatte keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu führen. Der Mann, der nun derselbe Brian sein sollte, an dessen Gesicht sich Robert allmählich zu erinnern begann, kam auf ihn zu, umarmte ihn und klopfte ihm den Rücken ab.

Brian, I can’t believe it, wiederholte Robert und schüttelte den Kopf. You have become a

stately gentleman.

So do you. Getting older, my friend. How’s life going?

Well, do you have time for a beer?

Great! But just ten minutes, I’ve to get the plane to New York.

Auf dem Weg zur nächsten Bar bewegten sich unscharfe Bilder durch Roberts Kopf: Nacht,

Bahnhof von Portbou, Cafetería, Schritte in einer dunklen Gasse, weiß schimmernde Körper auf dem dunklen Wasser, rot blinkender Stern im Nachthimmel, grün gemusterte Tapeten in einem schäbigen Hotelzimmer, ein surrender Deckenventilator, Donner, Fensterläden schlagen, eine Tür öffnet sich knarrend, ein indigoblaues Kopftuch flattert, leerer Strand hinter einer steinernen Balustrade, grau das aufgewühlte Meer, flaschengrünes Meer, schwarzes Meer – eine flimmernde wogende Masse, in der sich alle Bilder wieder auflösen.

Brian bestellte zwei Bier und schaute Robert kopfschüttelnd an.

Wie geht’s? In Berlin in den Ferien?, fragte Robert, um sich aus seiner Verlegenheit zu lösen.

Philosophical Congress. Well, ich bin Philosophie-Professor in New York, halte mich oft in

Berlin auf, arbeite in einer Projektgruppe mit der Freien Universität Berlin zusammen. Philosophie im Exil, es geht um die Folgen des Exodus der deutschen Philosophen während des Dritten Reichs, you know. Und wie geht’s dir? Immer noch in Zürich? Married? Children?

Ich arbeite als Gymnasiallehrer in Winterthur. Divorced, no children.

Oh, I’m sorry, und was treibst du hier in Berlin?

Just for pleasure. Seit dem Mauerfall bin ich nicht mehr in Berlin gewesen.

Since Portbou? Since I.?

Robert stutzte einen Moment, bis er im englischen Ai den Buchstaben I erkannte. Brians kleine Augen lauerten, dann buchstabierte er langsam auf Englisch: Ai-Es-Ei-Bi-I-El, Isabel.

Wie lange hatte Robert diesen Namen nicht mehr gehört. Isabel. Die Laute waren farbig. Indigoblau das I, violett das S, A war gelbrot wie ein Sommerabend und BEL eine graue Tapetenwand mit olivgrünem Blumenmuster und einem geöffneten Fenster.

Robert, bist du damals nach Barcelona gefahren, um I. zu suchen? You didn’t find her, right?

Robert schüttelte den Kopf.

Como pasa el tiempo, mi amigo. Brian schaute auf die Uhr.

Well, I’m sorry, I have to catch my plane. Take! Er drückte Robert eine Visitenkarte in die

Hand und umarmte ihn. Dann entfernte er sich ein paar Schritte, zögerte und kam zurück.

Listen, Robert, da ist etwas, was ich dich noch fragen wollte: Hast du I. seither wieder getroffen? Hast du Kontakt mit ihr?

Robert schüttelte den Kopf.

You loved her, right?

Robert hob die Schultern.

Weißt du, wieso du I. in Barcelona nicht gefunden hast? Brian verlängerte seine Frage mit

einem Stirnrunzeln, zog seine Unterlippe schief und begann dann zu grinsen.

Nein.

Well … Brian öffnete seine Arme, begann zu lachen, prustete, klopfte Robert auf die Schulter, sagte: Bye bye my friend, und verschwand Arme winkend im Gedränge.

Robert schlürfte gedankenverloren an seinem Bier. Ein Zug fährt ein. Sie hinter dem fahrenden Fenster, eingehüllt in einen schwarzen Regenmantel, auf ihrer breiten Baskenmütze perlen Regentropfen, ihr Halstuch, indigoblau, Mund, karminrot, ein M auf den Lippen, Kopf wendet sich, ihre Blicke finden sich, Mund öffnet sich zu einem O, der Wagen setzt sich in Bewegung, an ihrer winkenden Hand funkelt ein Goldring, sie fährt aus dem Bild.

Robert hatte einen Fensterplatz. Die Erinnerungsbilder vermengten sich mit den Wolkenschwaden, die weit unten vorbeizogen. Isabel, ihr Gesicht blieb eine helle Wolke, türmte sich zu einem schwarzen Monster und löste sich auf in undurchdringliche Nebelschwaden. Robert kramte sein abgegriffenes Reisetagebuch aus dem Rucksack und überflog die Einträge der letzten zwanzig Jahre. Die meisten waren überschrieben mit Orts- oder Ländernamen und Datum, aber es gab auch einige, über denen ein Frauenname stand: Renate, Barbara, Shirley, Claudia, María etc. Darunter fanden sich kurze Tagebucheinträge, Erlebnisberichte, Reflexionen, Gedichte und Kurzgeschichten. Zwischen Realem und Fiktivem wurde nicht unterschieden.

Er blätterte zurück ins Jahr 1990. Ein Eintrag mit der Überschrift »Isabel« oder »Portbou« war nicht darunter. Bei einem kurzen Text blieb er hängen.

 

L. sieht eines Tages auf einem Bahnhof die Frau seines Lebens. Ariadne sitzt im Zug, zwinkert mit dunklen Mandelaugen, greift in den kauenden Himbeermund und zieht daraus einen Faden.

 

Der Zug fährt ab, der Himbeermund bleibt, und der Faden reißt nicht ab …

Mein Gott, seufzte Robert, die Frau meines Lebens! Das habe ich geschrieben vor über zwanzig Jahren. Und er las den Schluss noch einmal: … der Faden reißt nicht ab … Der Faden ist längst gerissen.

Ariadne tippt Robert sanft auf die Schulter und hält ihren Kopf vor seine Augen. Ihr Gesicht ist verzerrt, das Augenpaar steht senkrecht und die Nase waagerecht. Der Mund vor ihm scheint eine lächelnde Vagina.

Mister, please fasten your seatbelt. Das Gesicht vor ihm lächelt schief und der Mund rückt in die Horizontale.

We’re just about to land at the airport of Zürich. Die Stewardess zeigte auf Roberts losen Sicherheitsgurt. Auf seinen Knien lag immer noch das Reisetagebuch.

 

Als er im Airport-Terminal Zürich auf den Zug nach Winterthur wartete, sah er auf dem gegenüberliegenden Gleis den Schnellzug nach Zürich Hauptbahnhof. Dort fährt um halb acht der Nachtzug Pau Casals nach Barcelona. Fünf Schritte. Das andere Ende des Fadens. Früher hatte er solche Fünf-Schritt-Entscheide gemocht. Robert hantierte an seinem Gepäck und ließ den Zug abfahren.

Auf dem Bahnhofplatz in Winterthur schlug er aus alter Gewohnheit zuerst die falsche Richtung ein. Erst als er vor der Marktgasse stand und weit hinten den vertrauten Punkt ansteuern wollte, wo er rechts abbiegen musste, wurde er gewahr, dass es hinter der Ecke keinen Fluchtpunkt mehr gab und dass ihre Wohnung dort jetzt nur noch Malus Wohnung war. Jedes Mal, wenn er für längere Zeit abwesend war und sich Winterthur vorzustellen versuchte, gingen ihm dieselben Bilder durch den Sinn: der Blick von seiner früheren Wohnung in der Steinberggasse auf die Marktstände, die flanierenden Köpfe zwischen Kohl, Radieschen und Schnittblumen, auf den Brunnen mit dem stämmigen Fischermaitli, das ihm jahraus, jahrein immer den Rücken zugekehrt hat; und immer wieder der Blick vom Busbahnhof hinauf in die Marktgasse, deren Fluchtlinien am Obertor zusammenfließen zu einem flirrenden, undurchdringlichen Fleck, in dem sich seine Vorstellungskraft erschöpft.

Er setzte sich in den Bus nach Wülflingen. Eine kleine Göre mit ihrer Mama saß ihm gegenüber und musterte ihn unverhohlen. Ihr Mund blieb offen, als wäre ein Ä darin stecken geblieben. Ja, so fühle ich mich auch, dachte Robert, als säße ich einem anderen gegenüber, der in eine fremde Wohnung fährt. Er versuchte, sich seine neue Wohnung vorzustellen. Er würde vor der fremden Tür im zweiten Stock stehen, an deren Klingel immer noch der Name »Evelyne Duttweiler-Marti« stand, den passenden Schlüssel suchen, die Wohnungstür öffnen und in den Korridor treten. Dann sah er vor sich gestapelte Schachteln und eingepackte Möbelteile. Seit dem Einzug vor zwei Monaten hatte er nur das Schlafzimmer, die Küche und ein kleines Arbeitszimmer notdürftig eingerichtet.

Als er dann vor seiner Wohnungstür stand, stellte er fest, dass jemand das alte Namensschild entfernt hatte. Es hing an einem Klebeband an der Tür, daneben haftete ein Post-it: »Bitte ihr Nahmenschild anbringen!« Robert nahm das Kärtchen mit der Aufschrift »Evelyne Duttweiler- Marti«, drehte es um, schrieb mit dem Kugelschreiber ein X darauf und steckte es zurück in den Klingelrahmen.

Robert stellte seinen Koffer in das Abstellzimmer, in dem er seit dem Umzug den Ramsch

aufbewahrte, den er nicht mehr um sich haben wollte. An der Tür haftete ein Zettel mit der

Aufschrift »Río Lima«. Das Zimmer schloss Erinnerungen ein, als wären es gefährliche Tiere. Er hatte sich vorgenommen, in den Sommerferien hier gründlich aufzuräumen, um in seiner Vergangenheit Ordnung zu schaffen. Aber genau davor grauste ihm: alte Erinnerungsstücke in die Hand zu nehmen. So blieb alles beim Alten und Robert betrat den Raum nur noch, um dort weitere Kisten mit Büchern und Ordnern abzustellen, und gelegentlich, um zu bügeln. Er stieß sein Fahrrad, ein Bügelbrett und einen Wäschekorb beiseite und bahnte sich den Weg zu den Kartonschachteln, die mit Ordnern, Heften, Fotoalben und alten Büchern aus der Studienzeit gefüllt waren. Zuoberst auf einem Kartonstapel lag eine verrostete Blechdose. Darin befand sich beinahe alles, was von seiner Kindheit übrig geblieben war: eine kleine Spieldose, zwei Murmeln, ein aufziehbares Auto. Irgendwann wird mein ganzes Leben in dieser kleinen Dose Platz finden, dachte er.

Und wo war sein blaugrünes Kaleidoskop? Nun erinnerte er sich: Er hatte es, als er ans Gymnasium kam, seiner kleinen Schwester Anna geschenkt. Vermutlich, um damit seine Kindheit abzulegen und seine Reife zu demonstrieren. Dann hob er Schachtel um Schachtel ab, bis er auf die alten Fotoalben stieß. Er stellte fest, dass alle Fotos, auf denen ein weibliches Wesen abgebildet war, herausgerissen waren. Malu, seine Ex, hatte gründliche Arbeit geleistet. Auch die Fotos, auf denen sie selber abgebildet war, waren entfernt. Aber Robert hatte vorgesorgt. In einem Umschlag, beschriftet mit »Steuererklärungen« und abgelegt in einer Schachtel mit dem Etikett »Dokumente«, hatte er einige Fotos retten können: Klassenfotos aus der Schulzeit; Renate, seine erste Freundin, winkt auf einem Fahrrad; Michele, die zweite, bläst zusammen mit Robert in einem Fotoautomaten Zigarettenrauch vors Objektiv. Dann einige Fotos mit Malu auf einer Vespa, wahrscheinlich auf der Reise durch Ungarn.

In einer Kiste, beschriftet mit »Manuskripte«, lagen Hefte, Ordner und Mäppchen. Ein Stapel Hefte war mit einer Schnur zusammengebunden. Er öffnete die Schnur und las einige Hefttitel: »Aus dem Kühlraum«, »Zu Vaters Tod«, »Der Zwillingsbruder«, »Der Träumer«, »Leties Geschichten«. Das waren seine literarischen Versuche. Er nahm das Heft mit der Überschrift »Lyrik« und las den Anfang eines Gedichts:

 

Auf der Rambla Frauenbeine,

Frauenfüße stelzen, tänzeln, stöckeln,

Ärsche wackeln, Titten wogen,

Arme schwingen auf ihn zu.

Frauenaugen stechen, blinzeln,

sehen weg

 

Frauen, Ärsche, Titten! Mein Gott, daraus wird niemals Literatur!, sinnierte Robert und legte das Heft zurück auf den Stapel. Eine Kartonmappe war umwickelt mit einem blauen Seidenschal. Er entfaltete ihn und hielt ihn an seine Nase. Er roch nach Mottenpulver. In der Mappe lag ein gebundenes Heft mit schwarzem Einband, auf der Etikette stand in verwässerter Schrift: »Portbou – Tagebuch I«. Die meisten Seiten waren gewellt, zerknittert oder verklebt; gelbbraune Wasserflecke und blaue, verschmierte Tintenkleckse überzogen das Papier. Nur auf wenigen Seiten in der Mitte konnte er einige verwässerte Schriftzüge entziffern.

 

Acaba de salir, abgefahren! Worte wie Steine. Ich gehe über den leeren Bahnsteig. Der Zug

kommt zurück, irgendwann, alle Züge kommen einmal zurück …

 

… eine Erscheinung, sie steht hinter Glas. Ignis fatuus. Ich bleibe im Schutz einer dicken Platane stehen. Sie hält den Hörer zwischen Schulter und dem schief gelegten Kopf, drückt ein Blatt gegen die Scheibe und macht sich Notizen. Vor der Telefonkabine steht ihr Gepäck.

 

Schritte, sie geht dicht am Baum vorbei. Ich hätte sie mit dem ausgestreckten Arm berühren können.

 

Brian grinst. Ich könnte den Hund erwürgen.

 

Erst jetzt gelingt’s mir, mit der Faust in das Glas zu schlagen. Ich zerre sie aus der Telefonzelle und schreie sie an: Deine Schönheit ist eingebildet; deine Geheimnisse interessieren mich keinen Deut.

 

Isabel steht vor mir, zwinkert mit den Augen und sagt: Y qué? Was soll’s? Schönheit ist mehr als die Summe ihrer Teile, Schönheit ist eine Melodie.

 

Die Parallelen schneiden sich im Unendlichen, feixt Brian und zeigt auf den Mond. Isabel

steht auf dem Mond, lacht spöttisch, winkt mit ihrem indigoblauen Halstuch und geht unter …

 

Nicho número 563, sagt der Mann. In den letzten Jahren kämen immer mehr Touristen, die

das Grab des Philosophen suchen würden. Rechts hinten an der Friedhofsmauer …

 

Ich habe davon gehört, und es ist auch darüber geschrieben worden. Deshalb bin ich hier.

Man sagt, das Manuskript sei verschollen.

Ja, es gilt als verschollen.

Wissen Sie mehr darüber?

Ein andermal, sagt der Alte.

 

Wieso ist sie eigentlich immer noch hier und hat sich nicht mehr nach den Zügen erkundigt? Und immer wieder die Frage: Ist sie hier geblieben wegen mir, wegen Brian – oder gibt es einen andern …

 

… wieder um Benjamins Koffer. Immer wieder das Wort maleta, dann erzählt Isabel etwas

von einem Onkel, tío, und es fallen wiederholt Wörter, die ich nicht verstehe. Títere, titiriti

oder titiritreo. Brian winkt dem camarero und bestellt lallend seine dritte …

 

… küsse sie auf den Mund … ihr Mund ein roter Schlund.

 

Zwischen den verklebten Seiten fand er ein Foto, ein verwackeltes Bild mit einer jungen Frau und einem jungen Mann. Auf der Hinterseite des Fotos stand mit Bleistift geschrieben: »I & B, 23. Sept. 1990«. Die beiden sitzen an einem Tisch einer Terrasse, lachen und strecken ihre gefüllten Weingläser gegen das Objektiv. Isabels Gesicht ist nur schwer zu erkennen. Es ist zur Hälfte verdeckt durch ein flatterndes blaues Tuch, das sie um den Kopf gewickelt hat – der indigoblaue Seidenschal! –, und eine große, spiegelnde Sonnenbrille, in der das glitzernde Meer und eine dunkle Silhouette mit einer Kamera vor dem Kopf abgebildet sind. Ja, ich bin nur eine Silhouette, sagte sich Robert. Isabels offener Mund mit den weißen Zahnreihen. Ihre lachenden Nasenflügel. Brians langes rotes Haar flattert vor dem Gesicht und lässt nur die große Nase und den wilden, struppigen Schnauz erkennen. Worüber lachen die beiden? Über Robert, den Fotografen? Fotos, sie geben nur die glänzende Oberfläche der Dinge wieder, ein lächerlicher Versuch, die Zeit aufzuhalten und wiederzufinden, was für immer verloren ist, folglich nichts mehr als angesammelte Erinnerungslast, dachte Robert, strich mit den Fingern über die gewellten Seiten des Hefts und sah die Papierschiffchen auf dem Río Lima davonschwimmen.

Es geschah auf der Autoreise nach Galizien und Portugal zusammen mit Malu

anfangs der neunziger Jahre. Er hatte dieses Tagebuch und ein paar Hefte mitgenommen, um an seinem Romanprojekt mit dem Titel »Portbou« weiterzuarbeiten. Die Inspiration ließ ihn auch auf dieser Reise im Stich, endgültig. Zumal hatte er das nachher so weitererzählt und auch er hielt sich lange an diese Version. Aus Erklärungsnotstand, wie er sich später eingestand. Sie hatten die portugiesische Grenze überquert, fuhren die Atlantikküste hinunter und irgendwann standen sie an der Mündung des Río Lima. Robert hatte in seinem Reiseführer gelesen, dass man in der Antike den Fluss für Lethe hielt, den mythischen Fluss des Vergessens. Man glaubte, dass derjenige, der in den Lethe steigt oder Wasser aus ihm trinkt, seine Erinnerungen vergisst. Ein römischer General hatte versucht, den Mythos zu widerlegen, weil der Fluss die militärische Kampagne in der Gegend behinderte. Es heißt, er habe den Fluss überquert und anschließend jeden einzelnen seiner Soldaten, die an der anderen Flussseite warteten, beim Namen genannt. Schau, hatte Robert darauf zu Malu gesagt, der Río Lima treibt die Erinnerungen ins Meer. Dort draußen lösen sie sich auf und werden zu Fischfutter, Algen und Muscheln. Dann holte er seine Hefte und das Tagebuch aus dem Kofferraum des Autos, stieg die Uferböschung hinunter und watete an einer seichten Stelle ein paar Meter hinaus in den Fluss. Ich werde den römischen General widerlegen, rief er und lachte verstört, öffnete ein Heft nach dem andern, riss Seite um Seite heraus und warf sie ins Wasser. – Robert, hör auf, du spinnst, rief Malu vom Ufer. Sie kam herangerannt und fiel ihm in die Arme. Einige der Hefte fielen dabei ins Wasser, aber Malu fischte sie heraus. Sie zog den immer noch hysterisch lachenden Robert ans Ufer und legte die nassen Hefte zum Trocknen auf die Steine. Dann setzten sie sich auf die Böschung. Robert schaute den langsam davontreibenden Manuskriptblättern hinterher, bis sie zu weißen tanzenden Punkten wurden. Papierschiffchen, nichts weiter als Papierschiffchen, sagte er. Dann begann er Steine nach den Schiffchen zu werfen. – Sie kommen zurück, es kommt alles zurück, rief er und begann zu weinen. Als er sich beruhigt hatte, legten sie sich hinter einer Düne in den Sand und liebten sich. Das einzige klare Bild, das sich Robert eingeprägt hatte, sind die davontanzenden Papierschiffchen auf dem Wasser: ein feierliches Bild – es bedeutete für ihn das Ende seiner schriftstellerischen Karriere, einer Karriere, die offiziell gar nie begonnen hatte. Damit die Schiffchen nicht zurückkommen, wie er Malu später sagte, nahm Robert sein Studium wieder auf und suchte sich eine Arbeit auf der Post.

 

Robert blätterte weiter im Tagebuch bis zum Schluss. Zwischen der letzten Seite und dem

Einbanddeckel fand er eine alte Mac-Diskette mit der Aufschrift »Portbou Tagebuch I« und,

eingepackt in zwei Blätter, eine schmale, versilberte Zigarettendose mit einem kyrillischen

Schriftzug und einem eingravierten Reiter. Robert konnte sich augenblicklich an die kleine

Dose erinnern. Meistens hatte sie in Isabels Händen gelegen, und ihre Finger, wenn sie nicht gerade Zigaretten drehten, spielten mit dem Deckelverschluss. Er öffnete sie und fand darin vier selbst gedrehte Zigaretten. Der trockene Tabak raschelte, als er eine zwischen die Finger nahm. Die beiden losen Blätter, in die die Dose eingepackt gewesen war, waren zerknittert und übersät mit von Gelb bis Dunkelbraun reichenden, konzentrisch abgestuften Wasserflecken. Auf der Innenseite war seine Handschrift zu erkennen. Im Gegensatz zu den anderen Tagebuchseiten waren sie nicht liniert und hatten eine gröbere Maserung. Es mussten die Seiten eines anderen Heftes sein, wahrscheinlich aus »Portbou Tagebuch II«. Die zittrig geschriebenen Buchstaben ließen sich mit einiger Mühe entziffern.

 

Ich lehne mich über die Balustrade, dort wo ich dich umarmt habe. Wie lang ist das her?

Zwei Tage, ein Leben lang. Die Zeit davor wird unwirklich, und die Zeit danach steht still.

Die Gegenwart ist leer wie der Strand. Nicht einmal mehr deine Spuren im Sand sind hier zu finden, Wind und Brandung haben sie weggewischt. Der dunkle Himmel hängt teilnahmslos über dem grauen Meer. Über der Kimm dreht ein Schwarm Seemöwen gleichgültig im Kreis. In einem Wolkenriss zeigt sich für einen Moment die untergehende Mondsichel. Die Wellen tragen Schaumkronen, donnern über die Steine und hinterlassen auf dem Sand nichtssagende Schaumspuren. Man hört Kies rollen. Dort, wo vor zwei Tagen noch dein Badetuch lag, auf dem du in deinem Tagebuch geschrieben und meine Postkarte gelesen hast, sitzt eine Gruppe von französischen Pensionären. Versuchen, Karten zu spielen, aber die Windböen reißen ihnen immer wieder die Karten aus der Hand. Was ist geschehen? Wo bist du? Brian. Der andere Mann. Etwas anderes denken. Die Farbe des Wassers an der Mole ist grün, flaschengrün. Der andere. Der dritte Mann.

 

… drücke mich in eine Eingangsnische gegenüber und beobachte den Eingang des Hostal

Juventus. Nach etwa zehn Minuten geht ein Mann mit einem Lederkoffer an mir vorbei und

tritt ins hostal. Schnurrbart, Bürstenhaar, Lederjacke. Er spricht mit dem conserje. Der

conserje überreicht ihm einen Schlüssel. Der Mann steigt die Treppe hinauf. Drei Minuten

später kommt der Mann zurück mit demselben Lederkoffer und hängt den Schlüssel ans Nagelbrett. Verlässt das hostal und entfernt sich Richtung Dorfzentrum. Der conserje kommt aus dem Hinterzimmer, tritt auf die Straße und blickt sich um. Geht zurück und verschwindet wieder im Hinterzimmer. Ich schleiche ins hostal, greife mir den Schlüssel 206 vom Brett hinter dem Empfangspult, steige hinauf in den zweiten Stock und schließe das Zimmer auf. Es ist noch nicht gemacht. Stolpere über eine Weinflasche, sie kollert über den Boden. Gestank nach Alkohol und abgestandenem Tabakrauch. Bettdecken, Zeitungen, Zigarettenkippen, Bier- und Weinflaschen. Zwei nebeneinanderliegende Betten. Auf einem der weißen Bettlaken ein Blutfleck, verschmierte Blutstropfen auf dem Boden. Jemand hat mit Blut die Zahl 88 an die Wand geschmiert. Über einem Stuhl dein indigoblaues Halstuch. Ich rieche daran. Ambra, zitronengelb. Auf einem Nachttischchen deine versilberte Zigarettendose. Inhalt: zwei handgedrehte Zigaretten, Zigarettenpapier. Sie riechen außer nach Tabak nach deiner Vagina. Ich steck dein Halstuch und deine Zigarettendose in die Jackentasche und verlasse eiligst das Zimmer.

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